Függelék
Einsamer Madách.
Von Sándor Márai.
Der ungarische Herr, dessen hundertster Geburtstag vor einiger Zeit in Ungarn gefeiert wurde, ist im dumpfen Zimmer eines Adelssitzes im Sempliner Komitat geboren. Dort lebte und starb er, sehr einsam, und in dieser Einsamkeit war er mit seinen größten Kollegen von der Weltliteratur verwandt. Hierin war ihm auch die Zeit günstig, denn der ungarische Denker von vor hundert Jahren konnte kein Gesellschaftswesen sein. Die ungarischen Adelssitze hatten keine Salons, die Städte noch weniger. Wer wirklich lebte, der lebte für sich, wer dachte, der dachte für sich. Es gab energische Geister unter ihnen, Kossuths und Széchényis, die für das Vaterland lebten und für sich zu Grunde gingen. Das ganze Zeitalter war eine einzige Kraftanstrengung in dem fiebrigen kleinen Land, die Programme voller Kontraste, neben Verwirklichung nationaler Ideale sollte auf einen Zauberschlag der Nexus geschaffen werden zwischen dem schlafenden und träumenden ungarischen Leben und der Geistigkeit des westlichen Europa. Der träge, untätige und konsumierende ungarische Adel und Hochadel hatte ein paar empfindsame, begeisterte, auf ihre Geistigkeit hochmütige, mehr exklusive Künstlerexemplare erzeugt, die, ohne die Mittel von Publikum und Zeit, eine eigenartige, in ihren Resultaten unfruchtbare, ja, tragische, aber in ihrer Entschlossenheit achtbare Stubenpolitik, Stubenkunst, Stubenleben produzierten. Madách lebte inmitten der dumpfen Sempliner Wälder, inmitten alter Bücher und alter ungarischer Edelmannssitten. Die Landschaft ist von sanfter Traurigkeit. Csesztve und Sztregova, mit ihren Eichenwäldern und notdürftigen Dörfern, in deren Gebiet die einzige ungarische dramatische Dichtung geboren wurde. In diesen ungarischen Landschaften, Dörfern und Schlössern ist alles sehr fertig, alles sehr lange schon fertig, und wer in ihnen lebt, der wagt nichts anzurühren, was ihm die Vergangenheit hinterlassen hat. Dies wäre die Tradition, mit der Madách,der adlige Gutsherr, gewiß sich abgefunden hätte, doch der Literator atmete schwer in der dumpfen Luft. Damals brachen sich die Sprach-, Lebens- und Gedankenerneuerer gen Westen Bahn. Europa hatte sich von Napoleon noch nicht erholt, als man in den ungarischen Schlössern begann, Voltaire zu lesen. Die Revolution trug nationale und politische Maske, doch, wie jede Revolution, war sie Revolution des gesamten Lebens, die Bewegung bewegte letzten Endes nicht nur Nationen, sondern in den Nationen auch Menschen, und in den Menschen die neuen, revolutionären Formen des Lebens.
Madách lebte in seinem Dorfe. Dies Dorf ist auch heute nichts als ein paar mit Kotziegeln gedeckte Häuser. Er hatte viele Bücher und viele Wälder; die Bücher las er und in den Wäldern jagte er Hasen, und wenn er von den Büchern schon ganz müde war, dann kam er auch den Wäldern und den Hasen näher. Dem ungarischen Dichter waren die Börsenspiele der europäischen Geistigkeit damals fern, riesige Wälder lagen zwischen ihnen. Publikum, Presse, Kritik, ja, selbst die Buchdruckereien – der entwickelte literarische Marktbetrieb störten ihn nicht. Er hatte niemanden, für den er schrieb und er brauchte auch im vornehmsten Sinne nicht Geschmacksrichtungen zu erleben und zu bedienen. Goethe arbeitete mit Verleger und Honorar; Madách sah in seinem ganzen Leben keine Druckerei. Was er zu sagen hatte, reifte ein Leben hindurch in dem Dichter, und es dauerte ein weiteres Leben, bis es das Tageslicht erblickte. Die Manuskripte der großen Bücher lagen Jahrzehnte lang in seinem Schubfach. Der Dichter war ein Kranker unter gesunden Menschen. Die Gesunden trieben damals ein handfestes Leben und Politik. Madách nahm an der großen Bewegung seiner Zeit, an dem achtundvierziger Befreiungskrieg, körperlich keinen Anteil. Dieser traurige Mann mit seinem hängenden Schnurrbart, der in seiner Notarzeit plötzlich aus Liebe eine fesche Dame aus dem Komitat, namens Elisabeth Fay,* zur Frau nahm, so eine rechte Komitatsschönheit, wäre sein Leben lang Dilettant geblieben, wenn er in glücklichen Lebensumständen gelebt hätte. Doch die Revolution drang auch bis zum ihm. Infolge eines unglücklichen oder vielmehr glücklichen Zufalls kommt er ins Gefängnis. Elisabeth Fay, eine Dame, die sich auch zur Zeit der Nationaltrauer gern hübsch kleidete, wurde ihm während seiner Abwesenheit untreu. Madách kommt aus dem Gefängnis zurück; dem Zwiegespräch folgt Erkältung, dem toten Verhältnis Scheidung. Er bleibt allein.
Was jetzt folgt in diesem eigenartigen, stolzen Leben, das ist die große, reine, starke seelische Tat; sie wirkt auf mich, wie ich es unter den Schriftstellern der Weltliteratur nur bei einem, dem Heiligen August, dem frommen Bischof, empfunden habe. Dieser Heilige, der, zum Heidentum geboren, mit seinen „Geständnissen”, einem etwas wenig populären, aber sehr schätzenswerten Buch, sich zum unbarmherzigen und aufrichtigen Literaten emporgerungen hat, führte in seiner Jugend ein auch für heidnische Begriffe sehr liederliches Leben, bis er eines Tages mit göttlicher Hilfe sich zum katholischen Glauben bekannte. An dieser Bekehrung mochte auch er selber aktiven Teil haben. Doch hiervon sprach er in christlicher Demut niemals. Dieser Lüstling also, dieser ausschweifende Heide, der Sohn einer numidischen Sklavin, wandte, nach schmutzigen und gierigen irdischen Freuden, den Blick nach innen und begann, sich der Welt zu entwöhnen. Wir können glauben, er, der Heide, wußte, was er aufgab. Er war ein sehr kluger Mensch. Er hatte das Leben mit allen Sinnen einer frischen Rasse genossen. Er liebte das Leben. Doch eines Tages wurde er unruhig, durstig, unbefriedigt und traurig inmitten der Genüsse. Da ging er in sich. Schon wußte er warum. Weil es ein gewaltiges Raffinement im menschlichen Leben gibt, eine unerhörte Möglichkeit, die produktive Entsagung. Er wollte alles durchleben. Darum entsagte er allem. Er entwöhnte sich des Lebens, der schönen Kleider, der verwickelten Frauen, der behaglichen Wohnungen. Allmählich entwöhnte er sich auch der Freuden schöner Landschaften, lieber Tiere und guter Freunde. Und als er so furchtbar einsam geworden war, da flehte er zu Gott, setzte sich hin und schrieb das schönste, schmerzlichste, aufrichtigste Buch der Welt, die „Geständnisse”. So wurde er ein Heiliger. Nein, so wurde er Schriftsteller.
Madách, der intelligente Landadlige, Elisabeth Fays, schöner Bücher, guter Pferde und geschmackvolle Speisen erzeugender Güter Besitzer, der zufriedene Mann, war ein verdammt schlechter Schriftsteller. Die in seiner Jugend und später in den Mannesjahren geschriebenen Gedichte, historischen Dramen, Abhandlungen, gehören zu den heimlichsten Flickwerken der ungarischen Literatur. Was sich in Verbindung mit fallendem Laub über die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens nur schreiben läßt, hat er geschrieben. Er schrieb mit der selbstquälerischen Wollust der großen Dilettanten, führte Tagebuch in Versen, schrieb alles, was er in seinem Leben gedacht hatte, nieder, voller Verzweiflung darüber, daß er nichts schreiben könne. Leser hatte er nicht, Kritik klärte ihn nicht auf, erbittert schrieb er Dramen und Gedichte, vierzig Jahre lang, in einem dämmerigen Zimmer, dessen gesamtes Mobiliar ein grünbezogener eiserner Schaukelstuhl und ein Schreibtisch mit vielen Schubfächern waren. Bis ihm eines Tages Elisabeth Fay erschien. Madách blieb allein in dem dämmerigen Zimmer. Er war voller Gekränktheit und Schmerz. Der ungarische Mann ist in seinem Charakter monogam. Die ungarische Frau weniger. Wie sie beide miteinander auskommen, ist ein mathematisches Geheimnis. Madách blieb allein in seinen Mannesjahren, zu einer Zeit, als nach der großen Niederlage jeder mißtrauisch war, und er lebte allein, ohne Frau, ohne Freunde, ohne Ambitionen. So lebte er Jahre lang. Er sprach zu niemandem, ging nicht unter Menschen. Frühmorgens machte er Schießübungen im Stall, zerschoß alle Balken. Die düstere, hungrige Manneswut der Einsamkeit arbeitete in ihm. Er ritt stundenlang. Manchmal (in seinen Gedichten) gefällt er sich auch so, die Situation hat irgendwie eine romantische Linie, die damals symphatisch war, – der beleidigte, verlassene, einsame Mann. Doch die Pose wird gar bald zur schmerzlichen und dauernden Wirklichkeit. Die Frau fehlt ihm sehr und alles, was sie mit sich bringt: das Leben. Zuweilen überkommt ihn sexuelle Verzweiflung: er beginnt ein Verhältnis mit einer Bäuerin, deren Mann er mit eisernen Zangen von seinem Dorfe jagen läßt, und hält die voll Ekel sich wehrende Frau in einem abgelegenen Zimmer des Schlosses eingeschlossen: er selbst bringt ihr das Essen, er räumt ihr Zimmer auf! Diese edle und reine Seele ist hier schon über die Enttäuschung hinweggekommen, seine Energien arbeiten zügellos, der ganze Mensch ist eine einzige ruhelose Strömung. Er ist allein, diese große Entdeckung macht er: er, Madách, ist allein, dies schreibt, sagt und tut er; er begreift es nicht: er ist allein.
So kommt dieser Dilettant darauf, daß nicht nur er, Madách, allein ist: der Mensch ist unendlich und entschieden allein. Diese Entdeckung macht ihn zum Dichter. Jetzt grübelt er hierüber, er schreitet durch den alten Park, findet Ruhe und sucht die Harmonie in dieser bitteren Tatsache. So schreibt er, in kaum einem halben Jahr, in plötzlichem Entfachen seinen in aller unterdrückten Kraft und ästhetischem Willen gereiften und vollkommenen „Faust”: die „Tragödie des Menschen”. Diese auch in ihren Fehlern erstaunliche dramatische Dichtung, in der das Goethesche „Nun laß ich alles gehen, wies Gott gefällt” zur persönlichen These wird, ist eine der vollkommensten Synthesen der menschlichen Fragen. Ironie, Traurigkeit und Ergebenheit sind die großen Fugen, die mit tiefem Grundton die wechselnden und vergehenden Positionen begleiten. Madách war kein philosophischer Geist, er plätscherte leicht in Gemeinplätzen. Doch er litt bewußt, und so wurde der schlechte Schriftsteller zum Menschen, der seine eigene Tragödie hatte.